Lediglich der Umstand, dass ein Mitangeklagter über einen Verteidiger verfügt, führen unter Anwendung des Grundsatzes fairen Verfahrens oder des Prinzips der Waffengleichheit zur Annahme einer Selbstverteidigungsunfähigkeit i. S. v. § 140 Abs. 2 StPO. Vielmehr ist stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, die in Fällen tatsächlicher gegenseitiger Belastung von verteidigten und unverteidigten Mitangeklagten zur Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung führen kann, sofern die Kenntnis des Akteninhalts zur Verteidigung von entscheidender Bedeutung ist.
So das Oberlandesgericht Stuttgart in dem hier vorliegenden Fall der Beschwerde eines Angeklagten, dessen Antrag auf Bestellung eines Verteidigers für sein Berufungsverfahren abgelehnt worden war. Dem Beschwerdeführer und 14 weiteren Angeklagten wird mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Tübingen vorgeworfen, sie hätten sich als Anhänger eines Fußballvereins anlässlich eines Auswärtsspiels zu Lasten dreier Anhänger eines anderen Fußballvereins der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht. Diesbezüglich ist der Beschwerdeführer vom Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Reutlingen mit Urteil vom 22. Juli 2010 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte, ebenso wie die Staatsanwaltschaft zu seinen Lasten, Berufung eingelegt. Mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2010 hat er beantragt ihm einen Verteidiger zu bestellen. Diesen Antrag hat das Landgericht Tübingen mit Verfügung vom 10. September 2012 abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seinem Rechtsmittel.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart sei die Frage, ob hinsichtlich des Beschwerdeführers ein Fall notwendiger Verteidigung gegeben ist, ausschließlich nach § 140 StPO zu beurteilen. Soweit der Beschwerdeführer bereits in erster Instanz auf § 68 JGG verwiesen und vorgetragen hat, im Verfahren vor dem Jugendschöffengericht, respektive nunmehr der Jugendkammer, sei stets von einem Fall notwendiger Verteidigung auszugehen, verkennt er, dass diese Norm bei gem. § 103 JGG verbundenen Verfahren gegen Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene nur für die beiden erst genannten, nicht jedoch für die Erwachsenen Mitangeklagten gilt. Für diese beurteilt sich die Notwendigkeit der Verteidigung ausschließlich nach § 140 StPO.
Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach dem Katalog des § 140 Abs. 1 StPO ist vorliegend nicht gegeben. Insbesondere wird dem Angeklagten kein Verbrechen zur Last gelegt (§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Nach teilweiser Ansicht ist von einer Zurlastlegung in diesem Sinne nur dann auszugehen, wenn der Beschuldigte wegen eines Verbrechens angeklagt ist, eine entsprechende Nachtragsanklage nach § 266 StPO erhoben wurde oder er in der Hauptverhandlung auf die Möglichkeit einer Verbrechensverurteilung nach § 265 Abs. 1 StPO hingewiesen wird. Die Gegenansicht geht demgegenüber davon aus, dass eine Zurlastlegung im Gesetzessinne bereits dann anzunehmen sei, wenn die nicht nur entfernte Möglichkeit besteht, dass die dem Gericht unterbreitete Tat als Verbrechen beurteilt werden wird. Welcher Ansicht zu folgen ist kann vorliegend deshalb dahinstehen, da die seitens des Angeklagten geführte Argumentation, ihm drohe auch eine Verfolgung wegen eines Verbrechens des Raubes nach § 249 StGB, da den Opfern in vorliegender Sache Teile ihrer Fanausrüstung weggenommen wurden, als fernliegend einzustufen ist. Es ist vielmehr in keiner Weise ersichtlich, dass sich die Angeklagten Fans die seitens der Geschädigten mitgeführten Schals, Trikots und Fahnen zueignen wollten.
Ebenso ist die Mitwirkung eines Verteidigers auch nicht nach der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO geboten. Die Schwere der Tat bedingt dies vorliegend eindeutig nicht. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die zu erwartenden Rechtsfolgen einschneidend sind. Die hierzu ergangene, mittlerweile als verfestigt anzusehende höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt dies regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe an. Der Angeklagte ist vorliegend erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden. Zwar hat die Staatsanwaltschaft zu seinen Lasten Berufung eingelegt, jedoch steht gleichwohl keine Strafe zu erwarten, die die Schwelle von einem Jahr Freiheitstrafe auch nur annähernd erreicht. Soweit der Angeklagte hierzu vorträgt, bereits die Anklageerhebung zum Jugendschöffengericht habe die entsprechend hohe Straferwartung der Staatsanwaltschaft erkennen lassen, verkennt er, dass das Jugendschöffengericht gem. den §§ 39, 40 JGG bereits dann zuständig ist, wenn die Verhängung von Jugendstrafe zu erwarten ist. Die zu erwartende Überschreitung der Rechtsfolgenkompetenz des Jugendrichters nach § 39 Abs. 2 JGG wird gerade nicht vorausgesetzt.
Auch die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage führt vorliegend nicht zur Notwendigkeit der Verteidigung. Soweit der Beschwerdeführer hierzu vorträgt die besondere Schwierigkeit ergebe sich bereits aus der Tatsache, dass in erster Instanz an fünf Tagen verhandelt worden sei und die Akte mittlerweile mehr als 500 Seiten umfasse überzeugt dies nicht, da beide Umstände vielmehr der Tatsache zuzurechnen sind, dass gegen 15 Mittäter Anklage erhoben wurde. Auch die Argumentation, es sei notwendig gewesen einen Ablehnungsantrag gegen den Vorsitzenden der Jugendkammer zu stellen führt ebenso wenig zur Annahme einer besonderen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage, wie die seitens des Verteidigers erfolgte Ankündigung der Stellung zahlreicher Beweisanträge für die Berufungshauptverhandlung. Eine derartige Rechtsansicht würde vielmehr dazu führen, dass der Angeklagte durch die Stellung entsprechender Anträge selbst die Notwendigkeit einer Verteidigerbeiordnung bewirken könnte. Es ist allenfalls denkbar, dass sich bei bestimmten Fallgestaltungen die Notwendigkeit der Stellung von Anträgen aus der Komplexität der Sache selbst ergibt. So liegt der Fall vorliegend jedoch eindeutig nicht. Überdies war der seitens des Angeklagten gestellte Ablehnungsantrag, der mittlerweile seitens des Landgerichts Tübingen zurückgewiesen wurde, auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu etwaiger Befangenheit bei vorangegangener Tätigkeit in abgetrennten oder Parallelverfahren, eindeutig unbegründet.
Zuletzt war auch kein Umstand ersichtlich, aufgrund dessen der Angeklagte unfähig wäre sich selbst zu verteidigen. Soweit er diesbezüglich vorträgt, einem Mitangeklagten sei bereits erstinstanzlich durch Beschluss des Amtsgerichts Reutlingen vom 06. Juli 2010 gem. § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger bestellt worden, weshalb es der Grundsatz des fairen Verfahrens und das Prinzip der Waffengleichheit gebiete nun auch ihm einen Verteidiger beizuordnen, überzeugt dies nicht. Zwar kann der Angeklagte auf zahlreiche Rechtsprechung verweisen, die die Notwendigkeit der Verteidigerbestellung bei verteidigtem Mitangeklagten entweder uneingeschränkt, oder zumindest dann annimmt, wenn die bloße Möglichkeit einer gegenseitigen Bezichtigung von verteidigten und nicht verteidigten Angeklagten besteht.
Die Gegenansicht ist der Meinung, dass es einen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger nur deshalb beizuordnen ist, weil auch der Mitangeklagte einen solchen hat, nicht existiert. Dieser Rechtsansicht schließt sich das Oberlandesgericht Stuttgart an. Weder der Grundsatz des fairen Verfahrens, noch das Prinzip der Waffengleichheit sprechen für die grundsätzliche Annahme einer Selbstverteidigungsunfähigkeit des Angeklagten, sofern ein Mitangeklagter anwaltlich vertreten ist. Dabei verkennt das Oberlandesgericht nicht, dass es besondere Konstellationen geben mag, bei deren Vorliegen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten ist. Dies ist insbesondere dann denkbar, wenn Mitangeklagte sich tatsächlich gegenseitig belasten und zu einer angemessenen Verteidigung die Kenntnis des Akteninhalts von entscheidender Bedeutung ist. Dies ist jedoch im Einzelfall zu beurteilen und entzieht sich der Annahme einer generellen Vermutung, wie sie der Gesetzgeber einzig für den Fall kodifiziert hat, dass dem Verletzten ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist (§ 140 Abs. 2 Satz 1 StPO). Selbst für den Parallelfall, dass sich der Nebenkläger auf eigene Kosten eines Beistandes bedient wird man nicht von einer generellen Erweiterung der gesetzlichen Vermutungsregelung ausgehen können.
In vorliegender Sache wurde einem der Mitangeklagten einzig aus individuellen Gründen, wegen des drohenden Widerrufes einer Strafaussetzung zur Bewährung, ein Pflichtverteidiger bestellt. Daraus allein ergibt sich die Notwendigkeit den 14 weiteren Angeklagten jeweils Verteidiger zu bestellen nach Ansicht des Oberlandesgerichts eindeutig nicht. Überdies liegen keine gegenseitigen Bezichtigungen der Angeklagten vor, die vielmehr bislang in beiden Instanzen geschwiegen haben. Auch ist nicht erkennbar, warum die detaillierte Kenntnis des Akteninhalts zur Herstellung einer etwaigen Waffengleichheit vorliegend unerlässlich sein sollte. Insgesamt liegen daher keine Besonderheiten im Einzelfall vor, die es rechtfertigen würden von einer Notwendigkeit der Verteidigung auszugehen.
Oberlandesgericht Stuttgart, Beschluss vom 22. November 2012 – 4a Ws 151/12